Einführung

Ich wuchs auf ohne eine Ahnung von meinen Vorfahren zu haben, noch hatte ich Kenntnis von Genealogie. Das wenige, was ich über meinen Familienhintergrund wusste, war ein Flickenteppich ohne Muster. Als Kind hatte ich natürlich eine Menge verschiedener Personen- und Ortsnamen gehört, doch war mir nicht klar, wie sie mit meiner eigenen Existenz verknüpft waren. Es gab auch nur wenige Familienmitglieder, die bereit schienen, über unsere Vorfahren zu sprechen. Zum Glück änderte sich das, als das Buchprojekt ernsthaft in Angriff genommen wurde. Von der Zeit an wurde mir von allen, die ich um Informationen oder Familiendokumente bat, die grösstmögliche Hilfe angeboten. An diesem Punkt möchte ich nochmal allen danken, die uns unterstützt haben.

Ich war mir stets vage bewusst, dass meine Urgrossmutter aus Schottland kam, das sie nach Deutschland kam um ihre Erziehung zu vervollständigen, dass sie einen Deutschen geheiratet hatte und für den Rest ihres Lebens in Deutschland lebte. Ich wusste auch, dass es einen berühmten Bruder gegeben hatte, und es hiess, sie entstammten einer schrecklich frommen Familie. Namen wie Nellie, Lucy, George und Will wurden genannt – aber niemand machte sich die Mühe zu erklären, wie es sich mit ihnen verhielt oder welche Geschichten sich hinter den Personen verbargen. Meine Mutter und ihre vier Geschwister zeigten nicht das geringste Interesse an ihren Ahnen – was hauptsächlich an dem militärischen Stil meines Grossvaters gelegen haben muss, mit dem er versuchte, seinen Kindern die Ahnenfolge seiner „noblen Vorfahren“ buchstäblich einzubläuen. Der Erfolg war nur, dass alle seine Kinder diese Art von Familienstolz ablehnten.

Zu Lebzeiten meines Grossvaters war es in Deutschland obligatorisch, seine arische Herkunft nachzuweisen und aufzuzeichnen. Und so sammelte er eifrig die Familiendokumente, weit mehr als notwendig war, trug sie in Alben zusammen und verfügte, dass alles was die Familie betraf nur vom ältesten Sohn zum nächsten ältesten Sohn weitergegeben werden dürfe. Sollte der letzte keinen männlichen Nachkommen haben, so seien die Dokumente an das „nächstwürdige“ männliche Familienmitglied weiterzugeben. Grossvater William schickte noch zu seinen Lebzeiten alles Material zu seinem ältesten Sohn William nach Kanada, der kurz nach dem zweiten Weltkrieg dorthin ausgewandert war. Doch die damit verbundenen Instruktionen konnten des Sohnes Interesse an der Familienforschung auch nicht mehr erwecken. Das galt auch für seine eigenen Kinder und für seinen Bruder Martin. So schickte William das Paket nach einigen Jahren nach Spanien, wo seine Schwester Ruth, meine Mutter, lebte. Ich weiss nicht, ob sie ausser einer kurzen Inspektion viel mit den Papieren anfing, doch sie machte eine Reise nach Schottland, wo sie einige der Orte fand, an denen die Smith Familie gelebt hatte. So wurde die Tür einen Spalt geöffnet.

Meine Mutter starb unerwartet, und ungefähr ein Jahr später empfing ich einen Karton, der alle noch vorhandenen Familienaufzeichnungen und Dokumente enthielt. Zu der Zeit war ich noch als Hebamme berufstätig und hatte wenig Zeit die Mengen der Photographien, Briefe und schriftlichen Erinnerungen mehr als nur flüchtig durchzusehen. Doch von damals an liess mich die Sache nicht mehr los. Ich hatte zwar zuerst keine Ahnung, was ich mit allem diesem Material anfangen sollte, doch war mir klar, dass sich hinter dem sinnlosen Durcheinander von Namen und Daten der Schatz einer faszinierenden Geschichte verbarg: oftmals rührend, manchmal spannend und immer aufschlussreich. Heisst es nicht, dass das Leben selbst die besten Geschichten schreibt?


1998 fuhr ich zum ersten Mal nach Schottland. Einige frühere Freundinnen hatten mich eingeladen, sie auf dieser Urlaubsreise zu begleiten, und so machten wir vier alte Mädchen uns auf den Weg. Ich verliebte mich sofort in das Land. Obwohl es schon Oktober war und sowohl Landschaft als auch Klima sich herbstlich präsentierten, wurde Schottland für mich der Inbegriff des Landes der offenen Landschaft, des guten Klimas und der freundlichen Menschen. Ein Erdenfleck, wo man allein sein konnte ohne sich einsam zu fühlen. Wir besuchten Aberdeen und die Art Gallery, in der einige Gemälde meiner schottischen Ahnen aufbewahrt sein sollten. Doch meine Hoffnung, sie zu sehen, wurde dieses Mal enttäuscht da keines von ihnen ausgestellt war. Wir fanden jedoch den Weg zu dem kleinen Örtchen Keig, machten die Pfarrkirche ausfindig und erforschten den Friedhof mit den Grabsteinen der Familie Smith. Es war ein erster zaghafter Schritt.

Im folgenden Jahr wiederholte ich die Reise, diesmal mit meinem Ehemann Rüdiger. Natürlich gingen wir wieder in die Art Gallery in Aberdeen und diesmal hatten wir mehr Glück. Obwohl wir auch jetzt wieder nicht die Familienbilder zu sehen bekamen, lernten wir die Kuratorin kennen, Jennifer Melville, die sofort wusste, wovon wir sprachen. Ich hatte einige alte Photographien dabei, die unseren unsicheren Erklärungen Glaubwürdigkeit gaben. Jennifer sprach dann mit solchem Enthusiasmus über die Smith Familie, und ganz besonders über den Bruder meiner Urgrossmutter, William Robertson Smith, sodass mir nach und nach klar wurde: es steckte doch etwas hinter all diesem Getue meines Grossvaters um seine Familie.

Jennifer empfahl uns einige Bücher zu lesen und zeigte uns die Kopie des Tagebuchs, das William und sein Freund, der Maler Sir George Reid, während eines Besuchs auf dem Kontinent geführt hatten, als die beiden Männer Deutschland, Belgien und die Niederlande besuchten. Und es war bei dieser Gelegenheit, dass meine Urgrossmutter Alice und ihre Schwester Lucy nach Frankfurt am Main gebracht wurden, um ihre Erziehung abzurunden. Jennifer erzählte uns, dass erst im Jahre 1994 eine internationale Konferenz in Aberdeen abgehalten worden war, um des hundertsten Todestags William Robertson Smiths zu gedenken. Wir verabredeten, in Verbindung zu bleiben, und mir wurde versichert, dass wann immer ich eine Frage hätte, ich mich an sie wenden könne. So war es Jennifer Melville die mir den Anstoss gab, endlich anzufangen mit meinem Familienprojekt, wie ich es nannte. Mir war klar geworden, dass es der Mühe wert sein würde.

Alices Erinnerungen waren natürlich für mich weit verständlicher und zuerst wesentlich interessanter als das komplexe Leben und Werk ihres berühmten Bruders. Nachdem sie 1883 Hans Thiele geheiratet hatte schrieb sie unermüdlich während ihres ganzen Erwachsenenlebens, jedoch immer auf deutsch. Alice hatte diese Sprache so gut gelernt, dass sie sogar in der Lage war, in Frankfurt deutschen Kindern Nachhilfestunden zu geben. Was sie schrieb war nicht spektakulär, es war alles ausdrücklich für ihre fünf Kinder gedacht. Irgendwann nahm ich mich auch eines wahren Schatzes in Gestalt dreier dicker Schulhefte an, in denen sie handschriftlich das Leben ihrer schottischen Familie während ihrer Kindheit und Jugend beschrieb. Nachdem ich diese Heft einige Male durchgelesen hatte, stand mein Plan fest, dieses kleine Manuskript zusammen mit einem Bericht von Alices Vaters über seine Jugend und Erziehung zu bearbeiten und herauszugeben.

Jede Familiengeschichte ist wie ein Fluss: die Ursprünge liegen in unzähligen kleinen Bächen die durch entfernte Bergquellen und den Regen gespeist werden. Sie laufen ineinander und verbinden sich untereinander bis sie später einen grossen Strom bilden. Wenn wir zurückschauen, sehen wir die Vielfalt der Quellen während wir nach vorn schauend den weiteren Verlauf des Flusses nur vermuten können. So waren meine Gefühle als ich mich mehr und intensiver mit den verschiedenen Zweigen der Familie beschäftigte. Bei einer Internetrecherche im Frühjahr 2002 wurde ich unerwartet fündig: auf einer unverdächtigen Website fand ich eine vollständige Doktorarbeit über William Robertson Smith, den bedeutenden Gelehrten für Hebräisch, Herausgeber der neunten Ausgabe der Encyclopaedia Britannica und Pionier der Bibelkritik in Grossbritannien. Ich schrieb an den Autor, Gordon Booth, und bekam umgehend eine Antwort. Wir waren beide begeistert, denn Gordon hatte vorher vergeblich versucht, irgendwelche lebenden Nachkommen von Robertson Smiths Familie aufzuspüren. Von da an wuchs unsere Korrespondenz in Umfang und in Häufigkeit, bis sie – wie das Bild meines Flusses – zu einer Flut anschwoll. Ich erzählte ihm von meinem Projekt und er gestand, dass er mit dem Gedanken einer populären Biographie William Robertson Smiths gespielt habe, jedoch zu wenig Material über dessen frühe Kindheit gefunden habe. So schien es nur natürlich, unser Material und unsere Anstrengungen zusammenzutun und mit Alices Erinnerungen an ihre strenge viktorianische Erziehung in der grossen Familie im Free Church Pfarrhaus in Keig zu beginnen.

Mit einer Kusine plante ich eine weitere Reise nach Schottland, diesmal herzlich willkommen geheissen von Mitgliedern einer Linie der Familie, von deren Existenz wir bis vor kurzem noch nichts geahnt hatten. Es sind Nachkommen des schottischen Malers James Giles. Und Gordon und seine Frau hatten uns eingeladen, ihre Gäste in Aberdeen zu sein. So verbrachten wir miteinander drei wunderschöne Tage. Wir entdeckten all die Plätze, die an die Smith Familie erinnerten: ihre Wohnstätten in Keig und Aberdeen, den Friedhof, wo ihre sterblichen Überreste die letzte Ruhestätte gefunden haben und die verschiedenen Gedenkstätten, die an Robertson Smith erinnern sollten. Nicht zuletzt die schönen Buntglasfenster in der Kapelle des King’s College. Und natürlich diskutierten wir unser Lieblingsthema: wie wir Alices Erinnerungen zu einem Buch machen könnten.

Die erste Schwierigkeit war, dass Alices umfangreiche Aufzeichnungen alle auf deutsch geschrieben waren. Ich hatte sie bereits getippt und den Text geglättet, aber nun musste alles in einigermassen gutes English übersetzt werden. Nach einigen Versuchen mit Übersetzungssoftware, deren Ergebnis eher Heiterkeit erregend war, entschloss ich mich, mich auf meine eigenen Fähigkeiten zu besinnen und sandte die Ergebnisse meiner Bemühungen Stück für Stück per Email an Gordon, der den Text wieder überarbeitete, bis er einigermassen gefällig zu lesen war. Und was mir an Wissen über die schottische Kultur und Kirchengeschichte im 19. Jahrhundert fehlte, konnte er mir erklären oder in der Queen Mother Bibliothek der Aberdeener Universität für mich herausfinden.

Wo Alice unbeabsichtigt Lücken gelassen oder entsprechendes Wissen ihrer Leser vorausgesetzt hatte, nahmen wir uns die Freiheit, weitere Details hinzuzufügen, die uns durch eine Reihe von Quellen zur Verfügung standen. Der Briefwechsel ihres Bruders mit anderen Familienmitgliedern – einige aus den Beständen der Universitätsbibliothek in Cambridge, einige in Familienbesitz – erwiesen sich als unschätzbar wertvoll. Ausserdem standen uns Fotos und Dokumente aus dem Familienbesitz zur Verfügung. Im übrigen hielten wir es für geboten, auf fiktive Elemente zu verzichten. Kurioserweise endete es damit, dass ich schliesslich fast so flüssig auf Englisch schrieb, wie Alice einst auf Deutsch.


Mein Urgrossvater William Pirie Smith und seine Frau, Jane Robertson, hatten insgesamt elf Kinder, von denen Alice, geboren am 27. April 1858 das neunte war. Im Jahr 1845, kurz nach der grossen Kirchenabspaltung innerhalb der schottischen Kirche hatte ihr Vater seinen komfortablen Posten als Direktor der West End Academy in Aberdeen aufgegeben, um der erste Free Church Pfarrer der ländlichen Gemeinde von Keig und Tough zu werden. Die Pfarrei liegt in einer hübschen, leicht hügeligen Gegend westlich von Aberdeen und das Dorf Keig selbst liegt nicht weit vom Fluss Don, dessen Ufer dort von einer der schönsten Brücken von Telford verbunden werden. Die Kirche der Free Church und das Pfarrhaus findet man ungefähr eine gute Meile südlich des Dorfes, jedoch in bequemer Nähe zu Whitehouse, einem kleinen Bahnhof an der Linie der Great North of Scotland Railway nach Alford, die im Jahr von Alices Geburt eröffnet wurde. Hinter dem Pfarrhaus erhob sich Alices Lieblingsberg, der Cairn William aus dem fruchtbaren Tal von Alford. Lebhaft beschreibt sie den Blick von dem Gipfel auf die schneebedeckten Cairngorm Berge im Westen und die Nordsee im Osten. Das Pfarrhaus selbst lag sehr einsam, doch für die Smith Kinder war es eine herrlich friedliche Umgebung, um darin aufzuwachsen. Und Alices betont in ihren Erinnerungen immer wieder ihre Liebe zu dem Garten um das Haus.

In den dreizehn Monaten vor Alices Geburt hatte ihre Mutter Jane zwei Kinder verloren. Im März 1857 starb ein kleiner Junge wenige Stunden nach seiner Geburt und im folgenden Oktober ihre vier Jahre alte Schwester Eliza. Wir können nur vermuten, wie Jane sich in der folgenden Schwangerschaft gefühlt haben muss. Wie Alices Erzählung enthüllt, war der Tod ein ständiger Teilnehmer am Leben im Pfarrhaus.

Innerhalb der Familie bildeten die Smith Kinder altersmässig drei Gruppen, und alle wurden zuhause unterrichtet. Die drei Ältesten, Mary Jane, William und George waren die intellektuellen Stars. Alle waren sie hochbegabt und damit eine ganz besondere Freude für ihren Vater, der höchste Erwartungen an sie knüpfte. Von frühestem Alter an wurden sie von den Eltern als gleichberechtigte Diskussionspartner anerkannt. So kam es, dass sie für die Jüngeren unerreichbare Vorbilder wurden. Die zwei mittleren Schwestern, Ellen und Isabella widmeten sich den häuslichen Pflichten im Pfarrhaus, was vielleicht teilweise ihren Neigungen entsprach, teilweise bestand aber auch die Mutter darauf, dass sie sich diese unabdingbar angesehenen Fertigkeiten aneigneten. Ellen war begabt, kontaktfreudig und geschickt. Isabella dagegen sehr schüchtern und reserviert, ganz ohne akademische Ansprüche, jedoch Expertin in der Rolle einer Haushälterin. Dann kamen die vier jüngsten: Charles, Alice, Lucy und Herbert. Wie Alice erzählt, beginnt ihre erste bewusste Erinnerung mit Herberts Geburt.

Um Alices Geschichte abzurunden, haben wir ein anderes bisher unbekanntes handgeschriebenes Manuskript eingefügt, diesmal vom Vater, William Pirie Smith. Geschrieben wurde es auf sein Diktat in den späten 1870ern. Sehr formal und altertümlich im Stil, bildet es einen völligen Gegensatz zu Alices Niederschrift, veranschaulicht jedoch sehr gut, wie ein begabter doch armer junger Schotte durch verbissene Beharrlichkeit und Selbsthilfe akademische Auszeichnungen erreichen konnte. So wie es damals in den Werken von Samuel Smiles gefordert wurde. Alices Vater schreibt mit grossem Ernst und manchmal mit einem Hauch von Selbstgefälligkeit, jedoch ohne übertriebene Frömmigkeit. Er verrät unbewusst viele seiner persönlichen Eigenschaften, die seine Tochter Alice offen beschreibt – ganz besonders seine Nervosität und sein besessener Drang nach Leistungen.


Nun mögen beide, Tochter und Vater selbst sprechen!

A. H.