Professur in Aberdeen und die Encyclopaedia Britannica

In Edinburgh prägte Andrew Bruce Davidson, Professor für Hebräisch, Robertson Smiths Denken schon früh. Von ihm übernahm er die Überzeugung, dass die Bibel als Literatur und geschichtliches Zeugnis, jedoch nicht als wörtliche Niederschrift göttlicher Offenbarungen anzusehen sei. Diese Erkenntnis setzte sich zwar damals auch in Schottland als allgemeine Lehrmeinung durch, wurde aber nicht als für die fromme Öffentlichkeit verständlich erachtet. Dennoch gab es keinerlei Einwände, diese Sichtweise in akademischen Kreisen zu diskutieren.

Robertson Smiths wachsendes Interesse an der Entwicklung und Psychologie der Religionen wurde in Edinburgh auch durch seine Bekanntschaft mit dem Schotten John F. McLennan beeinflusst, der als einer der ersten auf eine evolutionäre Entwicklung der Religionen von Animismus und Totemismus zum – letzten Endes – monotheistischen Konzept der Göttlichkeit hinwies.

Während Robertson Smiths letzten Semesters, im September 1869, starb Professor Sachs, Inhaber des Lehrstuhls für Hebräisch und Alttestamentliche Exegese am Aberdeener Free Church College. Robertson Smith wurde von Freunden überredet, sich für diesen Lehrstuhl zu bewerben, und eine grosse Kampagne zu seinen Gunsten begann. Vertraute, frühere Professoren, Mitstudenten und Studenten wurden um schriftliche Beurteilungen gebeten und legten Zeugnis für ihn ab.

Free Church College Aberdeen, FP

William Robertson Smith, 1870, B&C

Anfang Mai 1870 wurde Robertson Smith als Pfarrer zugelassen. Und als die Wahl für die Lehrstuhlbesetzung am 25. Mai 1870 stattfand, schlug er seinen Mitbewerber überzeugend. Im Sommer kehrte Robertson Smith nach Aberdeen zurück und an seinem 24. Geburtstag hielt er seine Antrittsvorlesung im Free Church College von Aberdeen: “What history teaches us to seek in the Bible”.

Bereits zwei Jahre später wurde Robertson Smith die Ehre zuteil, als Mitglied des Old Testament Revision Committee (bis 1884), das regelmässig in London zusammentrat, berufen zu werden. Das war eine weitere Gelegenheit für ihn, einen grossen Kreis führender britischer Bibelwissenschaftler aller Konfessionen kennenzulernen.

Die nächsten Jahre verliefen für den jungen Professor recht unaufgeregt. Er liess sich in Aberdeen zusammen mit seinem jüngeren Bruder Charles Michie in der Crown Street nieder.

Charles Michie Smith, ca. 1870, FP

Charlie war zu der Zeit Student am King’s College und sollte später Direktor des Observatoriums im indischen Kodaikanal werden. Während dieser Zeit kam Robertson Smith getreulich seinen Lehrverpflichtungen nach und genoss die Aberdeener Szene. Es waren Künstler, Wissenschaftler, Geistliche und Anwälte, die sich regelmässig zu gesellschaftlichen Anlässen trafen, diskutierten, gutes Essen, guten Wein sowie gute Zigarren genossen, und auch hier und da schon einmal über die Stränge schlugen. Es war eine typisch Viktorianische Männergesellschaft. In dieser Zeit begannen Robertson Smith lebenslange Freundschaften mit John Forbes White, einem Kunstförderer, und dem Maler George Reid (später Sir George Reid). Weiterhin reiste er viel und gern, so 1871 nach Frankreich und 1872 wieder nach Deutschland, wo er bei dem Orientalisten Paul de Lagarde Arabisch hörte. Mit ihm verband Robertson Smith sowohl gemeinsames wissenschaftliches Interessen, als auch eine anerkennende Freundschaft.

Faksimile eines Entwurfs, Bible, B&C

1874 begann Robertson Smith auf Bitten des Herausgebers der damals neu zu überarbeitenden neunten Edition der Encyclopaedia Britannica [EB9], Professor Thomas Spencer Baynes, zunächst einige kürzere Artikel als Beiträge über biblische Themen zu schreiben. Darauf folgte „Angel” und „Ark of the Covenant” und 1875 in Band drei der Encyclopaedia der grössere Artikel (fünfzehn Seiten) “Bible” . Darin schrieb er ganz frank und frei, dass bestimmte Behauptungen in den Schriften nicht als akkurat betrachtet werden könnten. Zum Beispiel konnte das Deuterononium offensichtlich nicht von Moses selbst aufgezeichnet worden sein, sondern von Schreibern einer späteren Zeit. Das Pentateuch als Ganzes stellt ein Werk dar, dass nach und nach überliefert und geschrieben wurde, und im Laufe mehrerer Jahrhunderte zu der massgeblichen jüdischen Tora wurde. Das kam den Erfordernissen der zweiten Tempel-Periode entgegen, um den Gesetzen als von Gott diktiert mehr Gewicht zu geben und den Geist des jüdischen Volkes nach der Babylonischen Gefangenschaft zu stärken.

Diese Vorstellung liess sich sowohl durch historisch belegte Daten, am Gebrauch der Sprache, der Geschichte, als auch den jeweils beschriebenen Lebensumständen dieses Volkes beweisen.