In Edinburgh prägte Andrew Bruce Davidson, Professor für Hebräisch,
Robertson Smiths Denken schon früh. Von ihm übernahm er die
Überzeugung, dass die Bibel als Literatur und geschichtliches Zeugnis,
jedoch nicht als wörtliche Niederschrift göttlicher Offenbarungen
anzusehen sei. Diese Erkenntnis setzte sich zwar damals auch in
Schottland als allgemeine Lehrmeinung durch, wurde aber nicht als für
die fromme Öffentlichkeit verständlich erachtet. Dennoch gab es
keinerlei Einwände, diese Sichtweise in akademischen Kreisen zu
diskutieren.
Robertson Smiths wachsendes Interesse an der Entwicklung und
Psychologie der Religionen wurde in Edinburgh auch durch seine
Bekanntschaft mit dem Schotten John F. McLennan beeinflusst, der als
einer der ersten auf eine evolutionäre Entwicklung der Religionen von
Animismus und Totemismus zum – letzten Endes – monotheistischen
Konzept der Göttlichkeit hinwies.
Während Robertson Smiths letzten Semesters, im September 1869,
starb Professor Sachs, Inhaber des Lehrstuhls für Hebräisch und
Alttestamentliche Exegese am Aberdeener Free Church College.
Robertson Smith wurde von Freunden überredet, sich für diesen
Lehrstuhl zu bewerben, und eine grosse Kampagne zu seinen Gunsten
begann. Vertraute, frühere Professoren, Mitstudenten und Studenten
wurden um schriftliche Beurteilungen gebeten und legten Zeugnis für
ihn ab.
Bereits zwei Jahre später wurde Robertson Smith die Ehre zuteil, als
Mitglied des Old Testament Revision Committee (bis 1884), das
regelmässig in London zusammentrat, berufen zu werden. Das war eine
weitere Gelegenheit für ihn, einen grossen Kreis führender britischer
Bibelwissenschaftler aller Konfessionen kennenzulernen.
Die nächsten Jahre verliefen für den jungen Professor recht
unaufgeregt. Er liess sich in Aberdeen zusammen mit seinem jüngeren
Bruder Charles Michie in der Crown Street nieder.
Charlie war zu der Zeit Student am King’s College und sollte später
Direktor des Observatoriums im indischen Kodaikanal werden. Während
dieser Zeit kam Robertson Smith getreulich seinen Lehrverpflichtungen
nach und genoss die Aberdeener Szene. Es waren Künstler,
Wissenschaftler, Geistliche und Anwälte, die sich regelmässig zu
gesellschaftlichen Anlässen trafen, diskutierten, gutes Essen, guten
Wein sowie gute Zigarren genossen, und auch hier und da schon einmal
über die Stränge schlugen. Es war eine typisch Viktorianische
Männergesellschaft. In dieser Zeit begannen Robertson Smith
lebenslange Freundschaften mit John Forbes White, einem Kunstförderer,
und dem Maler George Reid (später Sir George Reid). Weiterhin reiste
er viel und gern, so 1871 nach Frankreich und 1872 wieder nach
Deutschland, wo er bei dem Orientalisten Paul de Lagarde Arabisch
hörte. Mit ihm verband Robertson Smith sowohl gemeinsames
wissenschaftliches Interessen, als auch eine anerkennende
Freundschaft.
1874 begann Robertson Smith auf Bitten des Herausgebers der damals
neu zu überarbeitenden neunten Edition der Encyclopaedia Britannica
[EB9], Professor Thomas Spencer Baynes, zunächst einige kürzere
Artikel als Beiträge über biblische Themen zu schreiben. Darauf
folgte „Angel” und „Ark of the Covenant” und 1875 in Band drei der
Encyclopaedia der grössere Artikel (fünfzehn Seiten)
“Bible”
. Darin schrieb er ganz frank und frei, dass bestimmte
Behauptungen in den Schriften nicht als akkurat betrachtet werden
könnten. Zum Beispiel konnte das Deuterononium offensichtlich nicht
von Moses selbst aufgezeichnet worden sein, sondern von Schreibern
einer späteren Zeit. Das Pentateuch als Ganzes stellt ein Werk dar,
dass nach und nach überliefert und geschrieben wurde, und im Laufe
mehrerer Jahrhunderte zu der massgeblichen jüdischen Tora wurde. Das
kam den Erfordernissen der zweiten Tempel-Periode entgegen, um den
Gesetzen als von Gott diktiert mehr Gewicht zu geben und den Geist
des jüdischen Volkes nach der Babylonischen Gefangenschaft zu
stärken.
Diese Vorstellung liess sich sowohl durch historisch belegte Daten,
am Gebrauch der Sprache, der Geschichte, als auch den jeweils
beschriebenen Lebensumständen dieses Volkes beweisen.